Ich kann das doch! Oder?

Zweifeln und lernen am Segelboot

Wir segeln einen Am-Wind Kurs, kreuzen also in die Richtung, aus der der Wind kommt, auf. Unsere Kulisse: der Nationalpark Kornaten. Unsere tägliche Routine beinhaltet Sprünge ins klare Wasser, gemeinsame Mahlzeiten an Bord, arbeiten an unseren Zukunftsperspektiven und selbstverständlich Segeln. Mit meinem Segelschein für österreichische Binnengewässer und mehreren Segeltörns im Mittelmeer zähle ich mich zu den Erfahrenen an Bord. Weitaus weniger erfahren als unsere routinierte Skipperin (sie hat immerhin mehrfach den Atlantik überquert), aber mehr erfahren als diejenigen, die bei diesem Törn erstmalig ein Segelboot betreten haben. Habe ich mich wirklich so getäuscht?

Ein paar Worte vorweg
In meiner Dissertation machte ich mich auf Spurensuche, nämlich nach Phänomenen des Lernens. Dabei stützte ich mich auf das theoretische Verständnis, dass sich Lernen als Erfahrung1 zeigt. Was sich für mich eröffnete ist, dass Erfahrung stets Herausforderung vorausgeht. Wenn es zu einer Irritation, einer Störung, einem Bruch kommt, sind wir mit der Situation konfrontiert uns neu zu orientieren: das was bislang griff, funktioniert nicht mehr. Beim letzten Segeltörn kam es für mich zu einer herausfordernden Situation. Erst im Niederschreiben wurde mir deutlich, dass es ich eine Irritation erlebt habe, die mich gefordert hat. Die für mich eine Erfahrung bedeutet.

SeeFrauen_Blog_Winsch_Ueberlaeufer_2.jpg

Überläufer
Wir segeln unseren Kurs und ich bin für das Vorsegel verantwortlich, also Vorschoterin. Das bedeutet, jedes Mal, wenn das Schiff wendet, also seine Richtung ändert, ziehe ich an einer Leine und hole damit das Vorsegel auf die andere Schiffseite. Und irgendwie will „es“ mir an dem Tag nicht gelingen. Ein Überläufer jagt den anderen, was so viel bedeutet wie, ich schaff es nicht problemlos das Segel beim Wenden neu und auf der richtigen Seite straff zu ziehen. Beim ersten Mal bemerke ich es noch nicht mal richtig, ich sehe den Fehler kaum, wundere mich bloß weshalb ich keinen Zug auf das Segel bekomme. Da hab‘ ich wohl die Leine nicht korrekt vorbereitet. Das nächste Mal klappt es wieder. Ich spreche mir gedanklich Mut zu. Doch auch beim nächsten Mal das gleiche Problem. Wieder schaffe ich es nicht alleine, ich brauche Hilfe beim Befreien der Leine. Jetzt aber, genug! Aller guten Dinge sind bekanntlich drei. Irritiert kontrolliere ich für die nächste Wende noch genauer ob alles korrekt vorbereitet ist. Es kann doch nicht sein, dass ich den gleichen Fehler erneut gemacht habe. Nichts da, es geht so weiter. Wieder und wieder. Neben der Temperatur, die in mir aufgrund des erforderlichen Kraftaufwandes steigt, steigt auch die Frustration. Über mich. Ich kann das doch! Ich hab‘ das schon so oft gemacht. Zu weit aus dem Fenster gelehnt mit meiner Prahlerei. Was ist nur los mit mir? Anfangs fühle ich mich noch angespornt, bald wird dieses Gefühlt überlagert von einem Gefühl des Nicht-Könnens, des nicht-gut-genug-Seins, der Selbstüberschätzung.

Während der gesamten Zeit, in der ich das Gefühl habe, mir gelingt mein Tun nicht, nehme ich mein Rundherum kaum wahr. Im Moment kann ich gar nicht sagen, ob mein Verhalten für alle anderen auf dem Boot irgendwie störend ist. Oder auch frustrierend, so wie es sich für mich anfühlt. Erst im Nachhinein, im Gespräch über die Situation, erfahre ich, dass die Frustration ausschließlich bei mir und in mir hochgestiegen ist. Was für mich herausfordernd, war für meine Mitseglerinnen nicht außergewöhnlich. Wenn ich über diese Selbst- und Fremdwahrnehmung nachdenke, dann wird mir klar. Ja, Erfahrungen machen wir am eigenen Leib. Und Erfahrungen machen wir immer selbst. Das was sich für andere nicht ungewöhnlich gezeigt hat, hat sich für mich als Frustration und ein Gefühl des Scheiterns gezeigt.

Tut lernen weh?
Scheitern kann jedoch eine produktive Chance sein, nämlich die des Übens2, Denn Scheitern zwingt zu Veränderung3. Ob ich an der Aufgabe als Vorschoterin gescheitert bin? Nein, das nicht. Dennoch haben sich Gefühle des Scheiterns breit gemacht. Lernen und Leiden sind bereits seit der Antike eng miteinander verwoben4.  Denn um überhaupt Lernen zu können braucht es Irritationen. In einer Enttäuschung, in etwas Brüchigem werden wir aufgefordert umzudenken. Im Erfahren machen wir etwas durch, wir durchleben, mit unserem Leib. Somit ist Lernen ein Prozess, der sich an uns vollzieht. Erfahrung kommt von Fahren: das Ziel erreichen, es meint ein Durchhalten. Wir sprechen davon schmerzlich erfahren zu haben, weil Lernen dieser eigentümliche Schmerz vorausgeht. Etwas noch nicht können. Das zu fühlen und auszuhalten, das bedeutet lernen.

Die Perfektionistin in mir
Unser Schiff hat sein Ziel erreicht, mit ein paar Kniffen hat es geklappt. Mit meinem Segelkönnen fühle ich mich bei Ankunft unzufrieden. Das muss ich aushalten. Dabei geht es für mich weniger darum mit Winsch und Leine fertig zu werden, sondern vielmehr meinem eigenen Anspruch an mich selbst nicht gerecht werden zu können. Das Streben nach Perfektion ist kollidiert mit einem Unvermögen dieser Perfektion gerecht werden zu können. Etwas zu wollen, die Bewegungsabläufe womöglich auch zu kennen, bedeutet noch nicht etwas umsetzen zu können. Es kommt zu einem Zustand der Schwebe in dem sich Lernen vollzieht. Wenn das Alte nicht mehr greift und das Neue noch nicht zur Hand. Es gilt aus- und durchzuhalten. Alltäglich und auch auf dem Boot.

SeeFrauen_Blog_Winsch_Ueberlaeufer_3.jpg

Was heißt das jetzt?
Dieser Bericht soll vor allem neugierig machen. Er soll das Boot, als Ort an dem Erfahrungen und somit auch Lernen stattfinden kann, betrachten. Weil für viele Menschen Boote außeralltäglich und somit neu und anders sind. Und das Neue, das Unbekannte, ist Grundvoraussetzung, wenn ich davon ausgehe, dass Lernen und Erfahrungen unmittelbar miteinander verknüpft sind. Im Scheitern oder wenn etwas nicht funktioniert, besteht eine große Chance.

Die beschriebene Erfahrung ist meine Erfahrung, weil ich an dem Tag Lust hatte aktiv zu segeln. Weil ich mit einer gewissen Erwartungshaltung gestartet bin und das Segeln für mich anders verlief als erwartet. Durchkreuzte Erwartungen, genau das sind Erfahrungen.


1  Vgl. Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens (2012) München: Wilhelm Fink.
2 Vgl. Brinkmann 2012, S. 15 Brinkmann, M. (2012). Pädagogische Übung. Praxis und Theorie einer elementaren Lernform. Paderborn, München, Wien & Zürich: Schöningh
3 Vgl. Brinkmann 2008, S. 179-180 Brinkmann, M. (2008). Üben – elemenatares Lernen. Überlegungen zur Phänomenologie, Theorie und Didaktik der pädagogischen Übung. In: Mitgutsch, K., Sattler, E., Westphal, K. & Breinbauer I.M. (Hrsg.) Dem Lernen auf der Spur. Die pädagogische Perspektive, S. 278-294. Stuttgart: Klett-Cotta.
4 Vgl. Mitgutsch 2008, S. 263 bzw. 274 Mitgutsch, K. (2008). Lernen durch Erfahrung. Über Bruchlinien im Vollzug des Lernens. In: Mitgutsch, K., Sattler, E., Westphal, K. & Breinbauer I.M. (Hrsg.). Dem Lernen auf der Spur. Die pädagogische Perspektive, S. 263-277. Stuttgart: Klett-Cotta.

Wir segeln einen Am-Wind Kurs, kreuzen also in die Richtung, aus der der Wind kommt, auf. Unsere Kulisse: der Nationalpark Kornaten. Unsere tägliche Routine beinhaltet Sprünge ins klare Wasser, gemeinsame Mahlzeiten an Bord, arbeiten an unseren Zukunftsperspektiven und selbstverständlich Segeln. Mit meinem Segelschein für österreichische Binnengewässer und mehreren Segeltörns im Mittelmeer zähle ich mich zu den Erfahrenen an Bord. Weitaus weniger erfahren als unsere routinierte Skipperin (sie hat immerhin mehrfach den Atlantik überquert), aber mehr erfahren als diejenigen, die bei diesem Törn erstmalig ein Segelboot betreten haben. Habe ich mich wirklich so getäuscht?

Ein paar Worte vorweg
In meiner Dissertation machte ich mich auf Spurensuche, nämlich nach Phänomenen des Lernens. Dabei stützte ich mich auf das theoretische Verständnis, dass sich Lernen als Erfahrung1 zeigt. Was sich für mich eröffnete ist, dass Erfahrung stets Herausforderung vorausgeht. Wenn es zu einer Irritation, einer Störung, einem Bruch kommt, sind wir mit der Situation konfrontiert uns neu zu orientieren: das was bislang griff, funktioniert nicht mehr. Beim letzten Segeltörn kam es für mich zu einer herausfordernden Situation. Erst im Niederschreiben wurde mir deutlich, dass es ich eine Irritation erlebt habe, die mich gefordert hat. Die für mich eine Erfahrung bedeutet.

SeeFrauen_Blog_Winsch_Ueberlaeufer_2.jpg

Überläufer
Wir segeln unseren Kurs und ich bin für das Vorsegel verantwortlich, also Vorschoterin. Das bedeutet, jedes Mal, wenn das Schiff wendet, also seine Richtung ändert, ziehe ich an einer Leine und hole damit das Vorsegel auf die andere Schiffseite. Und irgendwie will „es“ mir an dem Tag nicht gelingen. Ein Überläufer jagt den anderen, was so viel bedeutet wie, ich schaff es nicht problemlos das Segel beim Wenden neu und auf der richtigen Seite straff zu ziehen. Beim ersten Mal bemerke ich es noch nicht mal richtig, ich sehe den Fehler kaum, wundere mich bloß weshalb ich keinen Zug auf das Segel bekomme. Da hab‘ ich wohl die Leine nicht korrekt vorbereitet. Das nächste Mal klappt es wieder. Ich spreche mir gedanklich Mut zu. Doch auch beim nächsten Mal das gleiche Problem. Wieder schaffe ich es nicht alleine, ich brauche Hilfe beim Befreien der Leine. Jetzt aber, genug! Aller guten Dinge sind bekanntlich drei. Irritiert kontrolliere ich für die nächste Wende noch genauer ob alles korrekt vorbereitet ist. Es kann doch nicht sein, dass ich den gleichen Fehler erneut gemacht habe. Nichts da, es geht so weiter. Wieder und wieder. Neben der Temperatur, die in mir aufgrund des erforderlichen Kraftaufwandes steigt, steigt auch die Frustration. Über mich. Ich kann das doch! Ich hab‘ das schon so oft gemacht. Zu weit aus dem Fenster gelehnt mit meiner Prahlerei. Was ist nur los mit mir? Anfangs fühle ich mich noch angespornt, bald wird dieses Gefühlt überlagert von einem Gefühl des Nicht-Könnens, des nicht-gut-genug-Seins, der Selbstüberschätzung.

Während der gesamten Zeit, in der ich das Gefühl habe, mir gelingt mein Tun nicht, nehme ich mein Rundherum kaum wahr. Im Moment kann ich gar nicht sagen, ob mein Verhalten für alle anderen auf dem Boot irgendwie störend ist. Oder auch frustrierend, so wie es sich für mich anfühlt. Erst im Nachhinein, im Gespräch über die Situation, erfahre ich, dass die Frustration ausschließlich bei mir und in mir hochgestiegen ist. Was für mich herausfordernd, war für meine Mitseglerinnen nicht außergewöhnlich. Wenn ich über diese Selbst- und Fremdwahrnehmung nachdenke, dann wird mir klar. Ja, Erfahrungen machen wir am eigenen Leib. Und Erfahrungen machen wir immer selbst. Das was sich für andere nicht ungewöhnlich gezeigt hat, hat sich für mich als Frustration und ein Gefühl des Scheiterns gezeigt.

Tut lernen weh?
Scheitern kann jedoch eine produktive Chance sein, nämlich die des Übens2, Denn Scheitern zwingt zu Veränderung3. Ob ich an der Aufgabe als Vorschoterin gescheitert bin? Nein, das nicht. Dennoch haben sich Gefühle des Scheiterns breit gemacht. Lernen und Leiden sind bereits seit der Antike eng miteinander verwoben4.  Denn um überhaupt Lernen zu können braucht es Irritationen. In einer Enttäuschung, in etwas Brüchigem werden wir aufgefordert umzudenken. Im Erfahren machen wir etwas durch, wir durchleben, mit unserem Leib. Somit ist Lernen ein Prozess, der sich an uns vollzieht. Erfahrung kommt von Fahren: das Ziel erreichen, es meint ein Durchhalten. Wir sprechen davon schmerzlich erfahren zu haben, weil Lernen dieser eigentümliche Schmerz vorausgeht. Etwas noch nicht können. Das zu fühlen und auszuhalten, das bedeutet lernen.

Die Perfektionistin in mir
Unser Schiff hat sein Ziel erreicht, mit ein paar Kniffen hat es geklappt. Mit meinem Segelkönnen fühle ich mich bei Ankunft unzufrieden. Das muss ich aushalten. Dabei geht es für mich weniger darum mit Winsch und Leine fertig zu werden, sondern vielmehr meinem eigenen Anspruch an mich selbst nicht gerecht werden zu können. Das Streben nach Perfektion ist kollidiert mit einem Unvermögen dieser Perfektion gerecht werden zu können. Etwas zu wollen, die Bewegungsabläufe womöglich auch zu kennen, bedeutet noch nicht etwas umsetzen zu können. Es kommt zu einem Zustand der Schwebe in dem sich Lernen vollzieht. Wenn das Alte nicht mehr greift und das Neue noch nicht zur Hand. Es gilt aus- und durchzuhalten. Alltäglich und auch auf dem Boot.

SeeFrauen_Blog_Winsch_Ueberlaeufer_3.jpg

Was heißt das jetzt?
Dieser Bericht soll vor allem neugierig machen. Er soll das Boot, als Ort an dem Erfahrungen und somit auch Lernen stattfinden kann, betrachten. Weil für viele Menschen Boote außeralltäglich und somit neu und anders sind. Und das Neue, das Unbekannte, ist Grundvoraussetzung, wenn ich davon ausgehe, dass Lernen und Erfahrungen unmittelbar miteinander verknüpft sind. Im Scheitern oder wenn etwas nicht funktioniert, besteht eine große Chance.

Die beschriebene Erfahrung ist meine Erfahrung, weil ich an dem Tag Lust hatte aktiv zu segeln. Weil ich mit einer gewissen Erwartungshaltung gestartet bin und das Segeln für mich anders verlief als erwartet. Durchkreuzte Erwartungen, genau das sind Erfahrungen.


1  Vgl. Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens (2012) München: Wilhelm Fink.
2 Vgl. Brinkmann 2012, S. 15 Brinkmann, M. (2012). Pädagogische Übung. Praxis und Theorie einer elementaren Lernform. Paderborn, München, Wien & Zürich: Schöningh
3 Vgl. Brinkmann 2008, S. 179-180 Brinkmann, M. (2008). Üben – elemenatares Lernen. Überlegungen zur Phänomenologie, Theorie und Didaktik der pädagogischen Übung. In: Mitgutsch, K., Sattler, E., Westphal, K. & Breinbauer I.M. (Hrsg.) Dem Lernen auf der Spur. Die pädagogische Perspektive, S. 278-294. Stuttgart: Klett-Cotta.
4 Vgl. Mitgutsch 2008, S. 263 bzw. 274 Mitgutsch, K. (2008). Lernen durch Erfahrung. Über Bruchlinien im Vollzug des Lernens. In: Mitgutsch, K., Sattler, E., Westphal, K. & Breinbauer I.M. (Hrsg.). Dem Lernen auf der Spur. Die pädagogische Perspektive, S. 263-277. Stuttgart: Klett-Cotta.

20. Dez 2018 16:00 –
Facebook Twitter